Ken Dryden ist im Alter von 78 Jahren an Krebs verstorben.
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Der „Game Changer“ hinter der ikonischen Maske
Es gibt Bilder, die zu Ikonen einer ganzen Sportart werden. Wer kennt nicht jenes von Bobby Orr in der Luft hängend nach seinem entscheidenden Overtime-Tor zum Stanley-Cup-Sieg 1970 der Boston Bruins? Auch von Ken Dryden gibt es so eine ikonische Aufnahme: es ist die Szene, in der er während einer Spielunterbrechung gelassen in seinem Tor steht, den Schläger locker vor sich abgestützt, das Kinn leicht auf der Oberhand ruhend, seine ebenso ikonischen Goaliemaske tragend. Diese Pose wurde zu mehr als eine Momentaufnahme. Sie wurde zur Metapher für einen Torhüter, der Eishockey nicht als bloßes Spektakel, sondern als intellektuelle Herausforderung begriff.
Nun ist Ken Dryden im Alter von 78 Jahren an den Folgen einer Krebserkrankung verstorben. Und es hat die Eishockeywelt bewegt, denn er war nicht nur ein normaler Top-Goalie und Hall of Famer. In einer Ära, in der viele Torhüter eher von Reflexen als vom Positionsspiel lebten, definierte er sein Spiel aus einer strategischen, technischen Sicht. Er war ein Pionier im Bereich der Goaltending-Technik. Dryden war mit fast 1,93 Metern Körpergröße für seine Zeit ungewöhnlich groß. Anstatt sich hektisch zu bewegen oder tief in die Hocke zu gehen, nutzte er seine Statur bewusst und blieb lange aufrecht, „standing tall“, und zwang die Schützen, den perfekten Schuss zu suchen. Diese Geduld und Ruhe im Tor war neu – viele Torhüter seiner Ära fielen (zu) früh in die Butterfly-Position.
Was ihn also auszeichnete, war die Kombination aus Positionsspiel und Reflexen. Er konnte das Spiel lesen und Situationen antizipieren. Dryden studierte die Spielzüge. Damit machte er das Torwartspiel analytischer. Mit seiner Reichweite deckte er das Tor anders ab als kleinere Goalies, nutzte Arme und Schläger nicht nur zum Abwehren, sondern auch zur Raumbegrenzung. Angreifer hatten das Gefühl, gegen einen „vierstöckigen Goalie“ (Zitat Phil Esposito) zu spielen. Seine berühmte Gelassenheit – das „Abstützen mit dem Schläger“ – war Ausdruck dieser mentalen Dominanz.
Was ihn ebenfalls zum Pionier machte: die Maske. Während noch in den 1960er-Jahren viele Torhüter ohne Gesichtsschutz spielten, trug er bereits an der Cornell University eine „pretzel-style mask“, ein eigenwillig geformtes Stück Fiberglas, das später zu einem Markenzeichen wurde. Es war mehr als ein Schutz – es war ein Symbol für den Wandel des Spiels. Dryden, der nachdenkliche Student, verstand: Wer in diesem Sport überleben will, muss auch seinen Körper schützen.
Ken Dryden im Jahr 1979 locker auf seinen Stock gestützt.
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Sechs Stanley-Cup-Siege errang er mit den Montreal Canadiens zwischen 1971 und 1979. So auch die Calder Trophy als Rookie des Jahres. Danach die Conn Smythe Trophy, weil er gleich in seinem ersten Playoff-Durchmarsch zum wertvollsten Spieler gekürt wurde. Fünf Mal gewann er die Vezina Trophy als bester Goalie der NHL. Doch vielleicht beeindruckender als die Statistik ist die Kürze seiner Karriere: Nicht einmal zehn Saisons spielte in der NHL, bevor er mit 31 Jahren die Schlittschuhe an den Nagel hängte. In nur neun Jahren prägte er eine gesamte Goaliegeneration und auch die darauffolgenden.
Warum so früh? Weil Dryden mehr war als ein Athlet. Er war Jurist, Intellektueller, später Autor und Politiker. Schon während seiner aktiven Zeit war er ein Mann, der Bücher las, wo andere den Golfplatz suchten. „I wasn’t a hockey player. I was somebody who played hockey“, sagte er einmal. Es ist einer dieser Sätze, die einen ganzen Lebensweg erklären. Für Dryden war Eishockey eben „nur“ ein Teil seiner Identität. Mit „The Game“ schrieb er eines der bedeutendsten Sportbücher in Nordamerika: eine Mischung aus Autobiografie, Gesellschaftsdiagnose und Liebeserklärung an den Sport. Bis heute gilt es als Referenzwerk für alle, die verstehen wollen, wie Sport unser Leben prägt. Von 2004 bis 2011 saß er im kanadischen Parlament, zeitweise als Minister für Soziale Entwicklung. Auch hier bewies er, was ihn immer auszeichnete: die Fähigkeit, zuzuhören, Zusammenhänge zu sehen und Haltung zu bewahren.
Für Montreal war Dryden weit mehr als nur ein Torhüter. Er wurde zum Sinnbild einer Epoche, in der die Canadiens – sogar noch mehr als heute – nicht einfach ein Team, sondern eine Institution waren. Seine stoische Ruhe hinter der Maske gab einer ganzen Stadt das Gefühl von Sicherheit, von Beständigkeit – mitten in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs in Québec, als Debatten über Identität, Sprache und Politik tobten. In dieser Zeit verkörperte Dryden die „Canadiens Dynasty“ der 1970er-Jahre, ein Team, das mit Eleganz und Dominanz spielte – und das Gefühl vermittelte, dass Erfolg nicht nur ein Zufall, sondern ein Versprechen war.
Auch für die NHL war Dryden ein Geschenk. Er gab dem Torhüterspiel eine neue Dimension - hin zu einer intellektuellen Position. Seine Präsenz, seine Ausstrahlung, seine Analysen setzten Maßstäbe, die noch heute gelten. Viele junge Goalies sahen in ihm nicht nur ein Vorbild: Man durfte gross denken, Fragen stellen, Sport und Gesellschaft zusammendenken. In einer Liga, die oft auf Härte und Spektakel setzte, brachte Dryden eine andere Form von Größe ein – leise, souverän, aber unübersehbar.
Joël Wüthrich